Nicht zuständig? Wenn Verantwortung in Organisationen „diffundiert“

Wer hat folgendes schon mal erlebt? In einem Teammeeting wird eine Herausforderung besprochen, alle nicken zustimmend, die Notwendigkeit zu handeln ist offensichtlich, doch am Ende geht jede*r mit dem Gefühl aus dem Raum, dass jemand anderes sich darum kümmern wird. Zwei Wochen später stellt sich heraus: Nichts ist passiert. Ein klassischer Fall von Verantwortungsdiffusion. 

Das Phänomen der Verantwortungsdiffusion

Verantwortungsdiffusion beschreibt eine Situation, in der Zuständigkeiten in Organisationen verwässern, weil zu viele Personen oder Abteilungen beteiligt sind. Was zunächst wie geteilte Verantwortung klingt, führt in der Praxis häufig dazu, dass niemand Verantwortung übernimmt.

Ob in großen Projekten, bei Sicherheitsfragen oder alltäglichen Aufgaben: Je mehr Menschen potenziell etwas tun könnten, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass tatsächlich jemand handelt. Dieser Mechanismus lässt sich durch das Phänomen des „Bystander-Effekts“ (also des Zuschauereffekts) beschreiben, das erstmals in den 1960er Jahren erforscht wurde.

 

Das Ergebnis:

  • Aufgaben bleiben unerledigt,
  • Probleme werden verschoben,
  • Entscheidungen verzögern sich,
  • Verantwortlichkeiten verschwimmen.

 

In Unternehmen führt das oft zu Reibungsverlusten, Ineffizienz und Frustration, sowohl bei Mitarbeitenden als auch bei Führungskräften.

Wie Verantwortung „verschwindet“

Verantwortungsdiffusion entsteht selten absichtlich. Viel häufiger ist sie ein Nebeneffekt moderner Organisationsstrukturen. Projekte verlaufen interdisziplinär, Hierarchien werden flacher, Teams arbeiten vernetzt. Das hat viele Vorteile, birgt aber auch eine Gefahr: Wenn alles „gemeinsam“ gemacht wird, ist am Ende oft niemand verantwortlich.

 

Typische Auslöser sind:

  • Unklare Rollenverteilung: Niemand weiß genau, wer für was zuständig ist.
  • Komplexe Schnittstellen: Zuständigkeiten verlaufen über mehrere Abteilungen.
  • Fehlende Rechenschaftsmechanismen: Niemand muss konkret Bericht erstatten.
  • „Das macht schon jemand“-Mentalität: Verantwortung wird gedanklich an andere delegiert.

 

Verantwortungsdiffusion ist tückisch, denn sie erzeugt nicht unbedingt Konflikte, sondern oft Stille und Stillstand. Das Problem bleibt, aber niemand kann oder will es benennen. Mitunter ist sogar allen Beteiligten bewusst, dass etwas nicht funktioniert, nur: niemand hat offiziell die Rolle, es zu lösen.

 

Folgen für Organisationen

Die Auswirkungen sind gravierender, als sie auf den ersten Blick erscheinen:

  • Verlangsamte Entscheidungsprozesse: Probleme bleiben länger ungelöst.
  • Wachsende Frustration. Mitarbeitende erleben Machtlosigkeit oder Desinteresse.
  • Schwache Verantwortlichkeitskultur: es entsteht das Gefühl: „Es bringt ja nichts, etwas zu sagen.“
  • Geringere Innovationskraft: wenn niemand Verantwortung trägt, fehlt die treibende Energie für Veränderung.

 

Gerade in Zeiten komplexer Transformationen, etwa in Digitalisierungsprojekten oder kulturellen Veränderungsprozessen, kann Verantwortungsdiffusion Organisationen massiv bremsen.

 

Strategien gegen Verantwortungsdiffusion

Die gute Nachricht: Verantwortungsdiffusion ist kein unausweichliches Schicksal. Organisationen können aktiv Strukturen schaffen, die klare Verantwortung fördern und verhindern, dass Zuständigkeiten „verschwimmen“:

  1. Rollen und Zuständigkeiten klar definieren
  2. Jeder Mitarbeitende sollte wissen, für welchen Bereich er oder sie Verantwortung trägt. Diese Zuständigkeiten sollten dokumentiert, kommuniziert und regelmäßig überprüft werden.
  3. Eindeutige Entscheidungswege schaffen
  4. Komplexe Themen brauchen klare Entscheidungsstrukturen. Wer trifft die finale Entscheidung? Wer informiert? Wer setzt um?
  5. Rechenschaftskultur etablieren
  6. Wenn Verantwortlichkeiten festgelegt sind, müssen auch Mechanismen existieren, die sicherstellen, dass Aufgaben tatsächlich verfolgt werden. Transparente Berichtswege helfen, Verantwortungsdiffusion zu verhindern.
  7. Verantwortung aktiv zuweisen
  8. In Meetings oder Projekten sollte am Ende jeder Diskussion klar sein: Wer ist zuständig? Bis wann? Mit welchem Ziel? Verantwortung braucht Namen.
  9. Kultur des „Ansprechens“ fördern
  10. Mitarbeitende sollten ermutigt werden, Unklarheiten oder diffuse Zuständigkeiten offen anzusprechen, ohne Angst vor negativen Konsequenzen.

 

Klare Strukturen, transparente Kommunikation und eine gelebte Verantwortlichkeitskultur sind das Gegenmittel für Verantwortungsdiffusion. Wer sie etabliert, sorgt dafür, dass Verantwortung sichtbar, greifbar und wirksam wird.